2. Prosodie
2.1 Einführung in die Prosodie
Im „Duden – Die deutsche Rechtschreibung“ wird „Prosodie“ (von προσῳδία, eig. „Beigesang“) als „Silbenmessung[slehre]; Lehre von der metrisch-rhythmischen Behandlung der Sprache“ definiert. Die Besprechung der allgemeinen Charakteristika hat gezeigt, dass die lateinische Metrik auf einer geregelten Abfolge von Längen und Kürzen basiert (Kapitel 1.2). Deshalb ist hinsichtlich der Prosodie insbesondere die Frage von Interesse, wann eine Silbe als lang und wann eine Silbe als kurz zu messen ist.
Aus einer Passage bei Cicero (orat. 173) lässt sich erkennen, dass die Römer Längen und Kürzen sowie metrische Strukturen auf natürliche Weise beurteilen konnten und im Theater lärmten, wenn ein Schauspieler einen prosodischen Fehler machte:
in versu quidem theatra tota exclamant, si fuit una syllaba aut brevior aut longior; nec vero multitudo pedes novit nec ullos numeros tenet nec illud quod offendit aut cur aut in quo offendat intellegit; et tamen omnium longitudinum et brevitatum in sonis sicut acutarum graviumque vocum iudicium ipsa natura in auribus nostris collocavit.
„Das ganze Theater schrie laut, wenn in einem Vers eine Silbe zu kurz oder zu lang war, obschon die breite Masse weder Versfüsse kennt noch irgendwelche Versmasse erfasst noch begreift, was nicht stimmt, noch weshalb, noch wogegen etwas verstösst, doch hat uns bei den Tönen die Natur selbst das Urteilsvermögen über alle Längen und Kürzen wie über hohe und tiefe Töne in die Ohren gelegt.“
Übersetzung aus Boldrini 1999, 10
Als Lernende einer Fremdsprache hat uns ipsa natura die Längen und Kürzen der lateinischen Sprache natürlich nicht in unsere Ohren gelegt. Es lohnt sich daher auf jeden Fall, beim Vokabel-Lernen immer auch die Längen und Kürzen zu berücksichtigen. Eine gute Wortkunde (z. B. die von Rüdiger Vischer) enthält viele Zeichen zu den Quantitäten der Vokale. Lernen Sie diese nach Möglichkeit unbedingt mit. Die Kenntnis der Längen und Kürzen hilft nicht nur bei metrischen Analysen, sondern auch bei der korrekten Aussprache der Wörter in Bezug auf ihren Wortakzent (vgl. Kapitel 1.2 zum Paenultima-Gesetz). Wenn Sie die Quantität eines Vokals nachschlagen möchten, hilft zudem ein Blick in ein gutes Wörterbuch (z.B. der Georges).
Zunächst muss zwischen der Quantität eines Vokals und der Quantität einer Silbe unterschieden werden. Vokale können im Lateinischen von Natur aus lang (z.B. sōl) oder kurz (z.B. lŏcus) sein. Im Unterschied zum Griechischen, wo etwa ein langes o von einem kurzen o im Schriftbild unterschieden wird (ω neben ο), lässt sich im Lateinischen aus dem Druck nicht erkennen, ob ein einzelner Vokal lang oder kurz ist. Quintilian (inst. 1,7,2f.) belegt zwar, dass man bereits in der Antike Langvokale graphisch (mit einer „Spitze“, lat. apex) kennzeichnen konnte, doch in der Regel wurde und wird dies nicht praktiziert. Quintilians Beispiel zeigt aber, wie wichtig die Quantität eines Vokals sein kann: So bedeutet malus mit einem Langvokal (mālus oder mit apex: málus) „Apfelbaum“, mit einem Kurzvokal (mălus) hingegen „schlecht“. Quint. 1,7,3: ut „malus“ arborem significet an hominem non bonum apice distinguitur … Andere bekannte Beispiele sind pŏpulus „Volk“ neben pōpulus „Pappel“ oder ănus „alte Frau“ neben ānus – Sie wissen schon.
Naturlange Vokale und Diphthonge werden in der Metrik grundsätzlich als Längen gemessen. Bei naturkurzen Vokalen ist die Quantität der Silbe entscheidend. Für die in der Prosodie relevante Messung der Silben gibt es die folgenden Grundregeln (nach Zgoll 2012, 43):
1. Offene Silben mit kurzem Vokal sind kurz (z.B. lŏ-cus).
2. Offene Silben mit langem Vokal oder Diphthong sind lang (z.B. sōl, laus).
3. Wenn zwei oder mehr Konsonanten auf einen Vokal folgen, ist die Silbe in der Regel geschlossen und lang, unabhängig von der Quantität des Vokals (vgl. z.B. sŭb gegenüber sub-ditus mit langer Anfangssilbe). Bei geschlossenen Silben mit Kurzvokal spricht man von ‚Positionslänge‘ (im Unterschied zur ‚Naturlänge‘ in sōl).
4. Silben am Schluss eines Wortes, die auf einen Konsonanten enden, gelten als lang, wenn im nächsten Wort ein Konsonant folgt. Positionslänge kann demnach auch über die Wortgrenze hinaus entstehen. Man vergleiche zwei Hexameterteile aus Ovids Metamorphosen (1,290 und 6,376) mit der Präposition sŭb:
- … latent sub gurgite turres (⏑, 4 ‒ ‒, 5 ‒ ⏑ ⏑, 6 ‒ ×) mit Positionslänge;
- quamvis sint sub aqua … (1 ‒ ‒, 2 ‒ ⏑ ⏑, 3 ‒) ohne Positionslänge.
Die ersten drei Punkte werden von Boldrini 1999, 13 in aller Kürze zusammengefasst:
„Eine offene Silbe ist kurz, wenn sie einen kurzen Vokal (⏑) enthält [1], lang, wenn sie langen Vokal (‒) enthält [2]; geschlossene Silbe ist immer lang, unabhängig von der Quantität des in ihr enthaltenen Vokals [3].“
Bezüglich Positionslänge sind im Lateinischen die folgenden Einzelheiten zu beachten:
- Die Buchstaben x und z gelten in der Regel als Doppelkonsonanten (am Anfang griechischer Fremdwörter hingegen längen sie nicht zwingend, vgl. z.B. Verg. Aen. 3,270 am Hexameterende: … nemorosa Zacynthos, ⏑ ⏑, 5 ‒ ⏑ ⏑, 6 ‒ ×);
- Als einfacher Konsonant gilt in der Regel qu (vgl. oben Ov. met. 6,376 sub aqua, ⏑ ⏑ ‒);
- Der Buchstabe h zählt nicht als Konsonant; aus diesem Grund gelten auch ch, ph und th als einfache Konsonanten;
- Konsonantengruppen mit s + Muta oder Nasal am Wortanfang (z.B. sp-, st-, sc-, sm- …) sowie griechische Namen mit ps- längen die vorangehende Silbe nicht immer (z.B. Catull. 64,357 am Hexameterende: unda Scamandri, 5 ‒ ⏑ ⏑, 6 ‒ ×);
- Muta cum Liquida: vgl. Kapitel 2.2.
Im Zusammenhang der Silbentrennung ist zu beachten, dass mit dem Zeichen i und oft auch mit u, das nach antiker Praxis auch für v gedruckt werden kann (also uenire für „kommen“), sowohl ein Vokal als auch ein Halbvokal bzw. Halbkonsonant bezeichnet werden kann. Bei der Einteilung in Silben gelten daher i und u meist nur als Vokale, wenn sie zwischen Konsonanten stehen (zu Ausnahmen vgl. die Übung 3 in Kapitel 2.10). Man denke z.B. an IVVENIS, das in modernen Ausgaben iuvenis oder iuuenis geschrieben wird: Das erste I ist konsonantisch und das zweite ist vokalisch, während umgekehrt das erste V vokalisch und das zweite konsonantisch ist. Die Silbentrennung ist demnach „ju-we-nis“.
Als kurze Übung machen Sie sich bitte detaillierte (!) Gedanken zur Silbentrennung und zu den Quantitäten im ersten Aeneis-Vers: Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris …
Bereits in Kapitel 1.3 wurden die festen Längen in diesem Hexameter bestimmt. Im Folgenden sind die festen Längen unterstrichen, Trennstriche für die Silben eingezeichnet sowie die Quantitäten der Silben (nicht der Vokale, für die die gleichen Zeichen [‒ und ⏑] verwendet werden!) angegeben: Ār-mă vĭ-rūm-quĕ că-nō, Trō-iǣ quī prī-mŭ-s ă-b ō-rīs Arma hat zwei Kurzvokale; die erste Silbe ist jedoch geschlossen und somit positionslang. Die Anfangssilbe von virum enthält einen von Natur aus kurzen Vokal, ist offen und daher kurz. Die zweite Silbe von virum ist eigentlich kurz, wird jedoch durch das angehängte -que positionslang. Das enklitische -que selbst enthält einen Kurzvokal. Die Stammsilbe von cano ist kurz, was man in jedem guten Wörterbuch nachschlagen kann; die Endung der ersten Person Singular auf -o ist üblicherweise lang (zu Ausnahmen vgl. Kapitel 2.8). In Troiae ist das i als Halbvokal bzw. Halbkonsonant zu lesen, der Name der Stadt besteht daher aus zwei Silben (sprich: Trō-jae; zu Tr- vgl. Kapitel 2.2): Die Anfangssilbe ist von Natur aus lang; ein Diphthong wie -ae ist auch lang. Das Relativpronomen qui ist im Nominativ Singular von Natur aus lang (vgl. dazu z.B. Rubenbauer/Hofmann §57). Die erste Silbe von primus ist ebenfalls von Natur aus lang; die zweite Silbe wird nicht positionslang, da in ab ein Vokal folgt und das -s zur folgenden Silbe gezogen wird (-să-). ab hat von Natur aus einen kurzen Vokal, ora einen langen Anfangsvokal; die Endung -is für Dativ und Ablativ Plural ist von Natur aus lang. |
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