7.4 Jonische Verse
Jonische Verse haben ihren Namen von der Verwendung durch jonische Dichter wie Anakreon (6. Jh. v. Chr.). In der lateinischen Dichtung werden Ionici a maiore, d.h. mit zwei Längen beginnend (‒ ‒ ⏑ ⏑), und Ionici a minore, d.h. mit zwei Kürzen beginnend (⏑ ⏑ ‒ ‒), unterschieden. Dabei können die Längen allerdings in zwei Kürzen aufgelöst und die Doppelkürzen zu einer Länge kontrahiert werden. Um alle Möglichkeiten darzustellen, müsste man demnach die Schemata ⏕ ⏕ ⏔ (a maiore) und ⏔ ⏕ ⏕ (a minore) verwenden.
Eine Spezialform ist der (nach Anakreon) auch ,Anakreonteus‘ genannte anaklastische jonische Dimeter. Bei diesem Versmass scheinen die Kürze und die Länge in der Mitte „umgebeugt“ (zu ἀνακλάω „umbeugen“) zu sein:
Statt ⏑ ⏑ ‒ ʽ‒ ⏑’ ⏑ ‒ ‒ (zwei reine Ionici a minore) also ⏑ ⏑ ‒ ʽ⏑ ‒ ’ ⏑ ‒ ‒ (anaklastisch).
Crusius/Rubenbauer 21955, 99 und Zgoll 2012, 136 nennen als Beispiel hierfür das Chorlied in Sen. Med. 849-852, wobei eine Doppelkürze auch durch eine Länge ersetzt sein kann und am Periodenende brevis in longo möglich ist (mit Angabe der Silbenquantitäten):
{CHORVS} Quōnām crŭēntă māenăs
prāecēps ămōrĕ sāeuō
răpĭtūr? quŏd īmpŏtēntī
făcĭnūs părāt fŭrōrĕ?
Das Metrum des Chorlieds kann aber auch anders interpretiert werden: In der Oxford-Ausgabe von Zwierlein 21987, 464 werden die Verse als katalektische jambische Dimeter verstanden, wobei das erste Element in Vers 851 und 852 durch eine Doppelkürze realisiert ist.
Verbreiteter als der anaklastische jonische Dimeter ist der doppelt katalektische jonische Quaternar a maiore, der auch Sotadéus (nach dem hellenistischen Dichter Sotades aus dem 3. Jh. v. Chr.) genannt wird:
1 ‒ ‒ ⏑ ⏑, 2 ‒ ‒ ⏑ ⏑, 3 ‒ ‒ ⏑ ⏑, 4 ‒ ‒
Wie beim anaklastischen jonischen Dimeter ist auch beim Sotadéus Anaklasis („Umbeugung“) möglich, d.h. ein Joniker (‒ ‒ ⏑ ⏑) kann auch z.B. als ‒ ⏑ ‒ ⏑ erscheinen und sieht dann wie ein Trochäus aus. Sotadeen werden zum Beispiel in Petron. 23 von einem cinaedus oder in Plaut. Amph. 168-172 vom betrunkenen Sosia verwendet. Dies könnte ein Grund dafür gewesen sein, warum Quintilian Sotadeen nicht für die Schullektüre empfahl (Quint. inst. 1,8,6) …
Analysieren Sie bitte als kurze Übung das zweizeilige Epigramm Mart. 3,29, das in Sotadeen verfasst ist:
Has cum gemina compede dedicat catenas,
Hās cūm gĕmĭnā cōmpĕdĕ dēdĭcāt cătēnās, (mit Anaklasis im dritten Joniker: ‒ ⏑ ‒ ⏑) |
Saturne, tibi Zoilus, anulos priores.
Sātūrnĕ, tĭbī Zōĭlŭs, ānŭlōs prĭōrēs. (mit Anaklasis im dritten Joniker: ‒ ⏑ ‒ ⏑) |
Hor. carm. 3,12 besteht aus insgesamt 40 Jonikern a minore (⏑ ⏑ ‒ ‒). Die modernen Herausgeber drucken das Gedicht unterschiedlich ab: Shackleton Bailey 42001 unterteilt es in vier Strophen mit jeweils zwei Quaternaren und einer Dipodie. Auch Klingner 31959 geht von vier Strophen aus, druckt diese aber ohne Unterteilung in Quaternare und Dipodien. Hor. carm. 3,12 ist demnach ein gutes Beispiel dafür, dass die Einteilung von Liedern in einzelne Perioden und Verse auch in der modernen Forschung noch umstritten sein kann.
PDF der folgenden Übung zum Herunterladen. Analysieren Sie Hor. carm. 3,12, das wie bei Klingner abgedruckt ist:
Miserarum est neque amori dare ludum neque dulci mala
vino lavere, aut exanimari metuentis patruae verbera
linguae.
tibi qualum Cythereae puer ales, tibi telas operosaeque
Minervae studium aufert, Neobule, Liparaei nitor (5)
Hebri,
simul unctos Tiberinis umeros lavit in undis, eques ipso
melior Bellerophonte, neque pugno neque segni pede
victus,
catus idem per apertum fugientis agitato grege cervos (10)
iaculari et celer arto latitantem fruticeto excipere
aprum.
Vgl. zur Analyse von Hor. carm. 3,12 auch Zgoll 2012, 138f., der zur metrischen Eintönigkeit (keine Anaklasis, keine Auflösungen) treffend sagt, dass diese „sicherlich absichtlich gewählt [sei], um rhythmisch die Situation der Neoboule zu unterstreichen, die an die monotone Arbeit am Webstuhl gefesselt bleibt, auch wenn ihre Gedanken zu ihrem Geliebten Hebrus schweifen.“
Catulls carmen 63 ist in so genannten Galljamben verfasst (Gallus: Priester der phrygischen Göttin Cybele/Cybebe). Dieser antike Begriff ist jedoch irreführend, da das Metrum heute aus einem katalektischen jonischen Tetrameter a minore hergeleitet wird. In seiner Grundform sieht das Schema folgendermassen aus:
1 ⏑ ⏑ ‒ ‒, 2 ⏑ ⏑ ‒ ‒, 3 ⏑ ⏑ ‒ ‒, 4 ⏑ ⏑ ×
Da sich in den Galljamben jedoch häufig Anaklasis (auch über die Metrum-Grenze hinweg) findet und Längen in Doppelkürzen aufgelöst sowie Doppelkürzen durch eine Länge realisiert werden können, ist das Versmass ziemlich vielseitig.
In Catull. 63 ist Vertauschung des vierten und fünften sowie in der zweiten Vershälfte (nach einer Mitteldiärese) des zwölften und dreizehnten Elements (mit einer Auflösung der Länge in zwei Kürzen) häufig. Die beliebteste Realisierung des Galljambus in diesem Gedicht ist demnach:
1 ⏑ ⏑ ‒ ʽ⏑, 2 ‒’ ⏑ ‒ ‒, | 3 ⏑ ⏑ ‒ ʽ⏑, 4 ⏑ ⏑’ ⏑ × (mit Markierung der beiden Anaklaseis)
Daher ist ein Galljambus bei Catull vergleichbar mit zwei anaklastischen jonischen Dimetern.
PDF der folgenden Übung zum Herunterladen. Analysieren Sie den Anfang von Catull. 63:
Super alta vectus Attis celeri rate maria,
Phrygium ut nemus citato cupide pede tetigit
adiitque opaca silvis redimita loca deae,
stimulatus ibi furenti rabie, vagus animi,
devulsit ili acuto sibi pondera silice. (5)
Vgl. dazu auch Zgoll 2012, 140–142.
Literaturhinweise zu Kapitel 7: Boldrini 1999, 124-138, Crusius/Rubenbauer 21955, 90-99 und Zgoll 2012, 81.84f.134-142.
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