2.4 Vocalis ante vocalem corripitur
In gewisser Weise umgekehrt dazu werden Langvokale vor einem anderen (ungleichartigen) Vokal oder vor h mit Vokal kurz ausgesprochen und als Kurzvokale behandelt. Man denke beispielsweise an die Verbalformen flĕo (neben flēre) oder prŏhibeo (< *prōhabeo). In den Metrikhandbüchern wird hierfür der Ausdruck vocalis ante vocalem corripitur (= „wird gekürzt“) verwendet. Von dieser prosodischen Erscheinung können auch Diphthonge betroffen sein, wie zum Beispiel am Ende des Hexameters in Verg. Aen. 7,524 stipitibus duris agitur sudibusve praeustis (…‒ ⏑ ⏑ ‒ ×), wo prae- vor dem Vokal u gekürzt wird.
Zu den wichtigsten Ausnahmen von dieser Regel vocalis ante vocalem corripitur gehören:
- ā oder ē in Vokativen der Eigennamen auf -aius und -eius, z.B. Gāī und Pompēī;
- ā bei altlateinischen Genitiven der 1. Deklination, z.B. terrāī (= klass. terrae);
- ē im Genitiv und Dativ der 5. Deklination, wenn ein -i- vorangeht, also z.B. diēī gegenüber rĕī (vgl. Rubenbauer/Hofmann §33 und 34.3; altlat. auch rēī);
- ī oft im Genitiv auf -īus, z.B. illīus neben illĭus;
- ī in den Formen von fieri, bei denen kein r folgt, z.B. fīo neben fĭeri (in altlateinischer Dichtung auch fīeri);
- ū in altlateinischer Dichtung im Perfekt auf -ui bei den Verben auf -uo, z.B. plūit;
- griechische Wörter wie āēr (āēr, āĕris m. „Luft, Nebel“).
(Liste nach Crusius/Rubenbauer 21955, 7f.; Boldrini 1999, 49f.; Zgoll 2012, 50)
Die Kürzung eines Langvokals oder Diphthongs kann auch über die Wortgrenze hinaus geschehen. Man vergleiche dazu als Entsprechung aus dem Griechischen den ersten Vers der Odyssee, wo Ἄνδρα μοι ἔννεπε als ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ⏑ zu messen ist. Diese Form von Vokalkürzung wird später in Kapitel 2.7 zum Hiat behandelt.
Rückwärts | Vorwärts |