3.2 Das elegische Distichon
3.2.1 Schema und Charakteristika des elegischen Distichons
Das elegische Distichon ist das Versmass der römischen Liebeselegien (insbesondere von Tibull, Properz und Ovid) und der Epigramme (z.B. von Catull oder Martial und in ‚echten‘ Inschriften). Ennius hat nicht nur den Hexameter (vgl. Kapitel 3.1), sondern auch die Vebindung von Hexameter und Pentameter, das elegische Distichon, in die lateinische Literatur eingeführt, indem er Epigramme in diesem Versmass dichtete.
Der Name Pentameter ist irreführend, da es sich eigentlich nicht um fünf Metren handelt, sondern um zwei Mal ein ‚Hemiepes‘ (von τὸ ἡμιεπές „der Halbvers“). Bereits in der Antike wurde ein Kolon des Hexameters bis zur Penthemimeres (‒ ⏔, ‒ ⏔, ‒) mit Hemiepes bezeichnet. Man denke an zwei Mal arma virumque cano aus Verg. Aen. 1,1. Entstanden ist der Begriff Pentameter aus der mechanischen Zusammenzählung von 2 x 2,5 daktylischen Metren. Pentameter kommen beinahe ausschliesslich in Verbindung mit einem Hexameter vor.
Das Schema des elegischen Distichons lässt sich folgendermassen darstellen:
1 ‒ ⏔, 2 ‒ ⁝ ⏔, 3 ‒ ⁞ ⏑⁚⏑, 4 ‒ ⁝ ⏔, ⁝ 5 ‒ ⏑⏑, 6 ‒ × ||
‒ ⏔, ‒ ⁝ ⏔, ‒ | ‒ ⏑⏑, ‒ ⏑⏑, × ||
Grundsätzlich gilt für den Hexameter in elegischen Distichen das in Kapitel 3.1 Gesagte. Natürlich gibt es auch hier Variationen in verschiedenen Epochen und verschiedenen Texten.
Das auffälligste Merkmal des Pentameters ist sicherlich die Mitteldiärese (MD), die sich aus der Aneinanderfügung von zwei Hemiepes erklären lässt. Die Mitteldiärese fehlt nur äusserst selten. Wie im Hexameter so sind auch im Pentameter die Längen fest: Sie können nicht durch zwei Kürzen aufgelöst werden. Die Länge vor der Mitteldiärese ist ebenfalls fest. Erst am Ende des Pentameters wird die Periode abgeschlossen und (syllaba) brevis in (elemento) longo ist möglich (vgl. Kapitel 2.3). Die zweite Hälfte des Pentameters ist fast immer daktylisch (‒ ⏑⏑, ‒ ⏑⏑, ×). In der ersten Hälfte findet sich oft eine Trithemimeres. Elision und Prodelision (vgl. Kapitel 2.6) sind im Pentameter seltener als im Hexameter und vorwiegend auf die erste Hälfte beschränkt. Sehr oft bilden elegische Distichen eine in sich geschlossene syntaktische Einheit. Nicht selten bestehen Hexameter und Pentameter jeweils aus einem vollständigen Haupt- oder Nebensatz.
Skandieren Sie als einführende Übung die angeblichen Grabepigramme von Ennius und Vergil. Danach werden einige Gedanken zu Aufbau, Stil und Bedeutung der beiden Gedichte folgen.
Enn. frg. var. 17-18
nemo me lacrimis decoret nec funera fletu
faxit. cur? volito vivos per ora virum.
nēmō mē | lăcrĭmīs | dĕcŏrēt | nēc | fūnĕră flētū [T, P, H, bD] fāxīt. cūr? | vŏlĭtō | vīvŏ(s) pĕr ōră vĭrŭm. [T, MD] |
Don. vita Verg. l. 136–137
Mantua me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc
Parthenope. cecini pascua rura duces.
Māntŭă mē | gĕnŭīt, | Călăbrī | răpŭērĕ, tĕnēt nūnc [T, P, H] Pārthĕnŏpē. | cĕcĭnī | pāscŭă rūră dŭcēs. [T, MD] |
Zu Ennius’ Grabepigramm: Die Formen vivos (statt klass. vivus) und faxit (arch. Konj. Perf. statt fecerit) weisen Ennius’ Sprache als Altlatein aus. Aufgrund dieser Sprachstufe kann die Endsilbe von vivos kurz gemessen werden, obwohl eigentlich zwei Konsonanten folgen: Gemäss Kapitel 2.8 unter (e) kann -s im Altlatein in mehrsilbigen Wörtern nach kurzem Vokal und vor konsonantischem Wortanfang wegfallen.
Eine wörtliche Übersetzung könnte folgendermassen lauten: „Niemand verherrliche mich mit Tränen und mache eine Bestattung mit Gejammer. Warum? Ich fliege lebend durch die Münder der Menschen.“ Im ersten Satz wird zunächst eine überraschende Aussage gemacht. Das Paradoxe an dieser Aussage wird durch die Frage cur?, die von einem Hörer gestellt werden könnte und betont vor der Trithemimeres steht, unterstrichen. Im weiteren Verlauf des Pentameters wird das Rätsel aufgelöst. Wenn man allerdings die Mitteldiärese nach volito als Pause liest, verzögert sich der Aufschluss noch etwas. In stilistischer Hinsicht beachte man ausserdem die Alliterationen bei volito vivos … virum. (Vgl. zur Deutung des Epigramms auch Suerbaum 1968, 168.)
Zu Vergils Grabepigramm: Man könnte die beiden Verse folgendermassen wörtlich übersetzen: „Mantua hat mich gezeugt, Kalabrien dahingerafft, nun hat mich Parthenope. Ich besang Weideland, Äcker, Führer.“ In prosodischer Hinsicht ist festzuhalten, dass Muta cum Liquida (vgl. Kapitel 2.2) in Calabri nicht längt. In diesem Hexameter ist die Penthemimeres die wichtigste Zäsur, da sie mit einem syntaktischen Einschnitt (ausgedrückt durch das Komma) zusammenfällt, und demnach als Pause zu sprechen. Der erste Satz kommt im Pentameter nach der Trithemimeres zu einem syntaktischen und rhythmischen Ende. Nach der Trithemimeres und vor der Mitteldiärese wird Vergils ‚Beruf‘ (cecini), anschliessend werden seine Werke genannt (pascua, rura, duces).
Das Distichon ist auch inhaltlich kunstvoll gebaut. Die drei für Vergil bedeutsamen Orte sind an metrisch exponierter Stelle: Der Geburtsort Mantua am Anfang des Hexameters, der Todesort in Kalabrien nach der Penthemimeres und der Ort des Grabs (Parthenope steht dichterisch für Neapel) am Anfang des Pentameters. Nach dem Lebensweg des Dichters wird im zweiten Satz das Lebenswerk in aller Kürze zusammengefasst, wobei seine drei Schriften mit einem asyndetischen Trikolon genannt werden: das „Weideland“ der Eklogen, die „Äcker“ der Georgica und die „Führer“ der Aeneis. Analog zu den Ortschaften erscheinen auch Vergils Gedichte in chronologischer Reihenfolge. Vergil hatte zuerst an den Eklogen, dann an den Georgica und bis zu seinem Lebensende an der Aeneis gearbeitet. (Vgl. dazu besonders auch Lausberg 1982, 279f.)
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