2.7 Hiat
Wie soeben in Kapitel 2.6 dargelegt, wird normalerweise die Endsilbe eines Wortes, das auf Vokal, Diphthong oder -m endet und vor einem Vokal oder h- steht, elidiert. Ausnahmsweise kann jedoch keine Elision eintreten. In diesen Fällen spricht man von einem ‚Hiat‘ (von lat. hiatus, eig. „die Öffnung, Kluft; das Auseinanderklaffen“). Wenn eine solche „Kluft“ beim Wortübergang stehen bleibt, können in der lateinischen Metrik zwei verschiedene Dinge geschehen, die mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet werden:
- die Endsilbe des vorangehenden Wortes beim Hiat wird analog zu vocalis ante vocalem corripitur im Wortinnern (vgl. Kapitel 2.4) gekürzt (a);
- die Endsilbe des vorangehenden Wortes und die Anfangssilbe des zweiten Wortes beim Hiat behalten ihre Quantitäten (b).
(a) Im ersten Fall kann von Hiatkürzung oder prosodischem Hiat gesprochen werden. Dieses vocalis ante vocalem corripitur über die Wortgrenze hinweg kommt insbesondere bei Einsilblern (Monosyllaba) vor. Ein Beispiel liefert der Hexameter in Verg. ecl. 8,108 (im Folgenden sind die Quantitäten der Silben eingezeichnet):
crēdĭmŭs? ān, quĭ ămānt, īpsī sĭbĭ sōmnĭă fīngūnt?
Bedenken Sie bei der metrischen Analyse, dass am Ende von Kapitel 2.1 festgehalten wurde, dass das Relativpronomen qui im Nominativ Singular von Natur aus lang ist. Eigentlich müsste es auch im Nominativ Plural (qui amant) eine Länge haben (vgl. Rubenbauer/Hofmann §57), aber dennoch muss es in diesem Vers kurz gemessen werden. Solche Hiate können mit dem Zeichen h gekennzeichnet werden:
credimus? an, quih amant, ipsi sibi somnia fingunt?
(b) Wenn keine Hiatkürzung eintritt, die Endsilbe des vorangehenden Wortes und die Anfangssilbe des zweiten Wortes ihre Quantitäten also behalten, werden in der Sekundärliteratur Bezeichnungen wie ‚metrischer‘, ‚logischer‘, ‚stilistischer‘ oder ‚einfacher Hiat‘ verwendet.
Vielfach erscheint der Hiat in diesem Fall bei einer syntaktischen und/oder rhythmischen Pause. Am häufigsten geschieht dies am Versende: Ein Hexameter kann beispielsweise mit einem Vokal enden, der nicht gekürzt wird, wenn im nächsten Vers ein Vokal folgt. Man denke an den 46. Vers im ersten Buch der Aeneis, der mit Iovisquĕ endet, und an den folgenden Vers 47, der mit et beginnt. Die Endsilbe von Iovisque wird dabei weder elidiert noch kann sie gekürzt werden, da sie bereits kurz ist.
Ein Hiat kann zudem bei einer syntaktischen und/oder rhythmischen Pause innerhalb des Verses auftreten:
Verg. georg. 1,4: sit pecorih, apibus quanta experientia parcis … (‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ⏑ …)
Dichter nutzen Hiate gerne aus stilistischen Gründen, um inhaltlich etwas zu betonen oder anzudeuten. Dabei muss an der Stelle des Hiats nicht zwingend auch eine syntaktische und/oder rhythmische Pause vorliegen. Besonders auffällig verwendet Ovid Hiate in met. 14,832, um das Pathos des Verses zu steigern. Die festen Längen im Hexameter sind markiert:
ōh et dē Latiāh, oh ēt de gēnte Sabīna … (in allen drei Fällen ohne Hiatkürzung)
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