2.6 Elision und Prodelision
Wie soeben am Beispiel una eademque … gezeigt wurde, kann ein Endvokal vor einem folgenden Vokal ausgestossen werden. Diese prosodische Erscheinung ist im Unterschied zur Synizese sehr häufig und wird im Verlauf dieser Einführung immer wieder wichtig sein. Wenn Wörter, die auf Vokal, Diphthong oder -m enden, vor einem Wort stehen, das mit Vokal oder h- beginnt, nahmen die Römer die Quantität der Endsilbe oft kaum wahr. Dieses Phänomen wird gewöhnlicherweise als Elision (von lat. elisio „das Herausstossen“) bezeichnet. In manchen Metrik-Handbüchern wird auch der Begriff ‚Synalöphe‘ verwendet (vom griech. Fachausdruck συναλοιφή hierfür, eig. „Zusammen-Schmierung“). Elisionen finden in der lateinischen Dichtung nicht zwingend statt: Gelegentlich bleibt das Aufeinandertreffen von Vokalen über die Wortgrenze hinaus bestehen, was mit ‚Hiat‘ bezeichnet wird (vgl. Kapitel 2.7).
Elisionen gibt es auch im Griechischen, wo sie allerdings mit dem Zeichen ’ notiert werden. Man denke beispielsweise an Vers 1,14 aus der Odyssee: νύμφη πότνι’ ἔρυκε Καλυψώ, δῖα θεάων (mit πότνι’ für πότνια). Im Deutschen werden solche Elisionen ebenfalls oft graphisch angezeigt, indem etwa „hab’ ich“ für „habe ich“ geschrieben wird. Im Unterschied zum Griechischen und zum Deutschen werden Elisionen im lateinischen Druck in der Regel nicht gekennzeichnet. In einer modernen Vergil-Ausgabe wird daher una eademque … gedruckt. Möchte man die Elision jedoch deutlich machen, kann man den betroffenen Vokal, Diphthong oder Vokal mit -m in Klammern setzen. Wer auf die Elision und die Synizese in una eademque hinweisen möchte, kann demnach un(a) e͡ademque schreiben. Dies würde allerdings in einer ‚normalen‘ Vergil-Ausgabe ziemlich hässlich aussehen und die Lektüre des Textes erschweren.
Vokale, Diphthonge und auf -m endende Wörter werden vor den Verbalformen es und est (zu esse, „sein“) nicht elidiert. Vielmehr werden es und est selbst zu (e)s bzw. (e)st gekürzt, was im Schriftbild ebenfalls meistens nicht angezeigt wird. Diese prosodische Erscheinung wird als Prodelision (zu prod- „vor“ und elisio „das Herausstossen“) oder Aphärese (von ἀφαίρεσις „das Wegnehmen“) bezeichnet.
Der Pentameter (bestehend aus zwei Mal ‒ ⏔, ‒ ⏔, ‒, vgl. Kapitel 3.2) in Tibull 1,1,20 enthält sowohl eine Elision als auch eine Prodelision, die hier im Schriftbild beide angezeigt sind:
… nūnc āgn(a) ēxĭgŭī (e)st | hōstĭă pārvă sŏlī.
„… nun ist ein Lamm das kleine Opfertier für das winzige Grundstück.“
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