1.2 Allgemeine Charakteristika der griechischen Metrik
Zunächst sei ein Hinweis auf ein Thema erlaubt, das in dieser Einführung in die griechische Metrik nicht zur Sprache kommen wird: ihre Vorgeschichte. Interessierte finden in den ausführlichen Standardwerken von West (1982, 1-4) und Sicking (1993, 13-15) erste Angaben und weiterführende Literatur dazu.
Bleiben wir beim soeben genannten Beispiel aus der Odyssee. Sie fanden oben die metrische Übersetzung von Johann Heinrich Voss abgedruckt, einem berühmten Übersetzer klassischer Texte (1751-1826). Lesen Sie seine Übersetzung noch einmal, indem Sie an die besprochene Abfolge der markierten und unmarkierten Elemente denken: Voss hat den Rhythmus des homerischen Originals nachgeahmt!
"Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor."
Deutsche Verse werden mit einer Abfolge von lauten und leisen Silben gelesen. Immer dort, wo im Folgenden eine Silbe unterstrichen ist, wird die Stimme angehoben: "Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor." Im Griechischen hingegen ist nicht der Wortakzent, sondern die Abfolge von langen und kurzen Silben entscheidend.
Bereits ein erster Blick auf den Anfang des Hexameters in der Odyssee (αὖτις ἔπειτα...) verdeutlicht dies. Das ε in ἔπειτα trägt zwar den Wortakzent, ist jedoch an der unmarkierten Stelle im Vers angesiedelt (bei der zweiten Kürze).
In der Einführung von Bruno Snell wird der Unterschied der griechischen Metrik folgendermassen beschrieben (S. 5):
"Wichtiger aber als irgendwelche Lautresponsion ist für die altgriechische Poesie der 'Rhythmus' der Sprache; dieser unterscheidet sich freilich fundamental von dem, was wir in unserer Dichtung so nennen: ihn bestimmt die Quantität der Silben, nicht wie bei uns die Betonung; dort ist der Wechsel von kurzen und langen Silben geregelt, bei uns der von laut und leise gesprochenen."
Da der Wechsel von langen und kurzen Silben im Altgriechischen entscheidend ist, also ihre Quantität zählt, spricht man auch von "quantitierender Metrik". In den germanischen Sprachen hingegen ist die Abfolge von betonten und unbetonten Silben wichtig, was "akzentuierende Metrik" genannt wird.
Die festen Längen eines griechischen Verses waren die Träger des Rhythmus. West nennt diese (loci) principes (1982, 18), Sicking spricht von "markierten Elementen" (1993, 43). Die Werke dieser beiden Metrik-Spezialisten werden im Verlauf dieser Einführung immer wieder zu thematisieren sein.
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