2.3 Hiat
Mit "Hiat" (von lat. hiatus, eig. "die Öffnung, die Kluft") wird das Aufeinandertreffen von zwei Vokalen an einer Wortgrenze bezeichnet. Innerhalb eines Wortes nennt man das Phänomen "Binnenhiat". Hiate werden in der Dichtung und in der Kunstprosa gemieden. Dies kann durch verschiedene Massnahmen geschehen, welche im Folgenden mit jeweils einem Beispiel kurz vorgestellt werden.
Elision (von lat. elisio "das Herausstossen"): Ein kurzer Endvokal kann vor einem folgenden Vokal wegfallen. Dies wird durch das Zeichen ' notiert.
Od. 1,14: νύμφη πότνι' ἔρυκε Καλυψώ, δῖα θεάων
(πότνι' für πότνια)
Hinweis: Auch die Diphthonge -αι und -οι werden manchmal elidiert. Eine Liste der üblichen Elisionen findet sich in West 1982, 10f.
Aphärese (von ἀφαίρεσις "das Wegnehmen") oder Prodelision (von lat. prod- "vor" und elisio "das Herausstossen"): Ein kurzer Anfangsvokal kann nach einem Diphthong oder einem langen Vokal wegfallen. Dies wird mit dem gleichen Zeichen wie die Elision markiert. Im Unterschied zum Lateinischen wird die Aphärese bzw. die Prodelision im Griechischen im Schriftbild immer angezeigt.
Soph. Trach. 381: Ἰόλη 'καλεῖτο, τῆς ἐκεῖνος οὐδαμὰ
(In diesem jambischen Trimeter steht 'καλεῖτο für ἐκαλεῖτο.)
Synizese (von συνίζησις "das Zusammensinken, Zusammenfallen"), Synekphonesis (von συν-εκ-φώνησις "das Zusammenaussprechen") oder Synalöphe (vom griech. Fachausdruck συναλοιφή, eig. "Zusammenschmierung"): Zwei Vokale können zu einem Vokal verschmelzen.
Dies kann im Schriftbild sichtbar sein und wird dann "Krasis" genannt: κἀπί für καὶ ἐπί (κἀπί mit einer "Koronis" über dem Alpha).
Es kann jedoch auch nicht im Schriftbild angezeigt sein. Man denke an den ersten Vers der Ilias:
Μῆνιν ἄειδε θεὰ Πηληϊάδεω Ἀχιλῆος.
(Nach den zwei Kürzen in -ϊάδ- folgt eine Länge in -εω: Die beiden Vokale sind demnach in Synizese zu lesen und als eine Länge zu messen.)
Hinweis: Es wäre auch hier möglich, die Synizese im Schriftbild anzuzeigen: Πηληϊάδε͜ω. Dies wird aber nicht von allen Herausgebern gemacht (vgl. etwa die neue Ilias-Ausgabe von Latacz et al. 2000, wo die Synizese angezeigt wird).
Bei Homer gibt es viele Verse, in denen nur scheinbar ein Hiat besteht. Oft treffen dort zwei Vokale aufeinander, wo früher ein Digamma (ϝ) dazwischen stand, das ausgefallen ist. Das Wort ἄναξ "Herrscher" begann ursprünglich mit einem solchen Konsonanten. Deshalb hat es im siebten Vers des ersten Buchs der Ilias einen so genannten Scheinhiat:
Ἀτρεΐδης τε ἄναξ ἀνδρῶν καὶ δῖος Ἀχιλλεύς
(ursprünglich hiess es *τε ϝάναξ)
Wenn ein Hiat bestehen bleibt, tritt oft eine Hiatkürzung ein. Dies wird auch correptio epica ("epische Verkürzung") genannt, oder es wird von vocalis ante vocalem corripitur gesprochen. Dabei wird ein langer Vokal oder ein Diphthong vor einem Vokal "gekürzt" (corripitur).
In Od. 1,1 ist Ἄνδρα μοι ἔννεπε als. ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ⏑ zu messen. Der Diphthong in μοι wird vor dem folgenden Epsilon gekürzt, bzw. das ι wird konsonantisch gelesen (an-dra-mo-je-ne-pe).
Es kann aber durchaus auch vorkommen, dass Hiate stehen bleiben. So ist etwa in Il. 6,388 ἣ μὲν δὴ πρὸς τεῖχος ἐπειγομένη ἀφικάνει ein Hiat überliefert, wo weder Hiatkürzung eintritt noch ursprünglich ein Digamma oder ein anderer verlorener Konsonant stand.
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