2.4 Prosodische Besonderheiten
Eine prosodische Besonderheit wurde bereits in einer Übung in Kapitel 2.1 erwähnt:
(1) Ein Doppelkonsonant oder eine Verbindung von zwei Konsonanten kann in unmetrischen Wörtern als Einzelkonsonant gemessen werden. Man erinnere sich an den Fluss Σκάμανδρος. Weitere Beispiele für diese Ausnahme sind σ͡κέπαρνον ("Beil, Holzaxt") oder die Insel Ζάκυνθος, wo Ζ- eigentlich als Doppelkonsonant auf die vorherige Silbe wirken sollte, was dann aber die im Daktylus unmögliche Folge ‒ ⏑ ‒ ergeben würde.
Was fällt Ihnen bei der Prosodie der folgenden Hexameter auf, wo ‒ ⏑ ⏑ oder ‒ ‒ als Abfolge erwartet wird?
(2) ἀθανάτων τε θεῶν χαμαὶ ἐρχομένων τ' ἀνθρώπων (Il. 5,442)
Man beachte den Anfang!
Das Alpha privativum ist von Natur aus kurz. Da das Adjektiv ἀθάνατος mit seinen drei kurzen Alphas deshalb im Hexameter eigentlich nicht verwendet werden kann, wird das ἀ- künstlich gelängt. Diese "metrische Dehnung" ist bei Homer so verbreitet, dass sie Gegenstand einer Monographie ist: Wyatt, W.F., Metrical Lengthening in Homer (Rom 1969). |
(3) πάντα κατὰ μοῖραν, καὶ ὑπ' ἔμβρυον ἧκεν ἑκάστῃ (Od. 9,245)
Die Endsilbe in κατὰ ist von Natur aus kurz, und es folgt ihr nur ein Konsonant. Dennoch muss sie aufgrund des Versschemas lang gemessen werden: ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ etc. Generell gilt, dass anlautendes λ-, μ-, ν-, ῥ- und σ- doppelkonsonantisch wirken können. Ausserdem kann sogar verlorenes anlautendes *ϝ-, *s- oder *j- dazu beitragen, dass eine vorangehende Silbe Positionslänge erhält. Im vorliegenden Beispiel kann die Längung sprachgeschichtlich erklärt werden. μοῖραν geht auf *σμοῖραν zurück, begann also ursprünglich tatsächlich mit zwei Konsonanten. Von solchen Fällen hat sich diese "metrische Lizenz", dass ähnliche Konsonanten im Anlaut doppelkonsonantisch wirken können, analogisch ausgebreitet. |
(4) Χαλκίδα τ' Εἰρέτριάν τε πολυστάφυλόν θ' Ἱστίαιαν (Il. 2,537)
Bei -λόν ist die Länge des 5. Metrums. Die folgende Silbe Ἱσ- ist aufgrund der zwei Konsonanten positionslang und schliesst somit das 5. Metrum ab, das demnach durch einen Spondeus (‒ ‒) realisiert wird. Für das 6. Metrum liegt auf den ersten Blick eine Silbe zu viel vor (τί-αι-αν), da hier lediglich ‒ × erwartet wird. Die Lösung ist, dass die Halbvokale ι und υ gelegentlich als Konsonanten gelesen werden. Dies kann man folgendermassen notieren: Ἱστί̯αιαν. Das Phänomen der konsonantischen Lesung von Halbvokalen war bereits bei der Hiatkürzung gestreift worden. |
(5) εἰλαπίνη ἦε γάμος; ἐπεὶ οὐκ ἔρανος τάδε γ' ἐστίν (Od. 1,226)
Zunächst lassen sich hier zwei bereits besprochene Phänomene beobachten: Bei -νη ἦε ist eine Synizese auszumachen, die beiden Etas sind als ein Langvokal zu lesen (‒ ⏑); bei ἐπεὶ οὐκ (⏑ ⏑ ‒) liegt Hiatkürzung vor. Die Silbe vor ἐπεὶ οὐκ (⏑ ⏑ ‒) muss aufgrund des Versschemas lang sein. Gemäss dem bisher Besprochenen ist das auslautende -ος in γάμος aber eigentlich weder natur- noch positionslang. Als weitere prosodische Besonderheit ist deshalb zu merken: Am Ende eines Wortes können -ν, -ρ, oder -ς den kurzen Vokal der Endsilbe längen. |
Hinweis: Weitere prosodische Besonderheiten werden bei der Besprechung einzelner Metren behandelt.
Literaturangaben zur Prosodie: Korzeniewski 1968, 20-27; Snell 41982, 65-70; West 1982, 7-18; Sicking 1993, 61-65; Kannicht 1997, 345-347; Utzinger 2007, 7-10; Bär 2009, 8f. Weiterführend ist Devine, A.M; Stephens, L.D., The Prosody of Greek Speech (New York/Oxford 1994).
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