E-Learning: Einführung in die altgriechische Metrik

 


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5.3 "Äolische" Lyrik

Die dritte Gruppe nicht κατὰ μέτρον gebauter Singverse wird aufgrund von Sappho und Alkaios in der Regel "äolisch" genannt, obwohl sie auch bei anderen Dichtern verbreitet ist. Sappho und Alkaios stammen von der Insel Lesbos, welche vom Volk der Äoler besiedelt worden war, und sind die wichtigste Dichterin bzw. der wichtigste Dichter dieser lyrischen Form. Neben der Metrik teilen sie auch den lesbischen Dialekt, welcher zur äolischen Gruppe der griechischen Dialekte gehört. Die durch Sappho und Alkaios berühmt gewordenen Versmasse (Kapitel 5.3.1) finden sich später in allen Bereichen der Lyrik wieder. In dieser Einführung wird neben Bakchylides und Pindar (Kapitel 5.3.3) auch auf die Chorlyrik der Tragödie und der Komödie (Kapitel 5.3.4) separat eingegangen.

 

5.3.1 Sappho und Alkaios

In den Gedichten von Sappho und Alkaios sind weder Resolutionen noch Kontraktionen zugelassen: Die Kola haben immer die gleiche Anzahl Silben. Im Folgenden werden diejenigen Formen der äolischen Dichtung vorgestellt, welche als selbständige Einheiten vorkommen. Merken Sie sich insbesondere die Namen und die Struktur der drei Grundkola (Glyconeus, Pherecrateus und Hipponacteus), von denen es jeweils auch eine akephale und eine doppelt akephale Variante gibt. In Klammern werden deren verbreitetste, meist aus der Antike stammende Bezeichnungen in der Sekundärliteratur genannt.

Das Symbol ○ ○ bezeichnet die so genannte äolische Basis. Diese beiden Silben werden in der Regel mit ‒ ‒, ‒ ⏑ oder ⏑ ‒ und nur ausnahmsweise mit ⏑ ⏑ realisiert. Aus diesem Grund wird auf eine Notation mit × × verzichtet.

 

Grundkola

   gl Glyconeus (○ ○ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒)
   pher Pherecrateus (○ ○ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒)
   hipp Hipponacteus (○ ○ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒)

 

Merkhilfen: "Glükonäer send ned so schwer", "Glykoneen sind nicht so schwer" oder auch "Glykoneus bin ich benannt" (Snell 41982, 70); Pherecrateus: eine Silbe weniger (gl  ̭); Hipponacteus: eine Länge mehr (gl‒).

 

Die akephale Form der Grundkola

     ̭gl (=tel) × ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ (Telesilleus)
     ̭pher (=reiz) × ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ (Reizianum)
     ̭hipp (=hag) × ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ (Hagesichoreus)

 

Die doppelt akephale Form der Grundkola

     ̭ ̭gl (=dod) ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ (Dodrans)
     ̭ ̭pher (=ad) ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ (Adoneus)
     ̭ ̭hipp (=ar) ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ (Aristophaneus)

 

Bei Sappho und Alkaios erscheinen die Grundkola der äolischen Lyrik (und deren akephale und doppelt akephale Varianten) oft innerlich oder äusserlich erweitert. Diese Beobachtung ist rein deskriptiv zu verstehen. Ob sie auch die Entstehungsgeschichte wiedergibt, bleibt in der Forschung umstritten.

Als innere Erweiterungen sind die chorjambische Elementenfolge ‒ ⏑ ⏑ ‒ (notiert mit dem Index c) und die daktylische Elementenfolge ‒ ⏑ ⏑ (notiert mit dem Index d) belegt. Die verbreitetsten Formen haben wiederum eigene Bezeichnungen in der Sekundärliteratur, welche hier in Klammern angegeben sind:

   gld ○ ○ ‒ ⏑ ⏑ '‒ ⏑ ⏑'‒ ⏑ ‒ (gl mit '‒ ⏑ ⏑', ein "Elfsilbler")
   glc ○ ○ ‒ ⏑ ⏑ ‒ '‒ ⏑ ⏑ ‒' ⏑ ‒ (gl mit ''‒ ⏑ ⏑ ‒'', ein "Asclepiadeus (minor)")
   gl2c

○ ○ ‒ ⏑ ⏑ ‒ '‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒' ⏑ ‒ (gl mit zwei Mal ''‒ ⏑ ⏑ ‒'', ein "grösserer Asclepiadeus/Asclepiadeus maior")

 

Als äussere Erweiterungen kommen jambische Metren bzw. deren Verkürzungen vor. Vorne können ia (   ), 2ia (× ‒ ⏑ ‒ × ‒ ⏑ ‒) oder cr (‒ ⏑ ‒), hinten ia (× ‒ ⏑ ‒) oder ba (⏑ ‒ ‒) angefügt werden.

 

Auch die so genannten sapphischen und alkäischen Strophen bestehen aus äolischen Kola mit Erweiterungen. Beide Strophenformen werden oft in vier Zeilen gedruckt. Da ein Wortende nach der dritten Zeile nicht zwingend ist, wird hier aber bei der sapphischen Strophe die folgende triadische Analyse bevorzugt:

   cr,   ̭hipp ‒ ⏑ ‒, × ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ || (=cr, hag)
   cr,   ̭hipp ‒ ⏑ ‒, × ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ || (=cr, hag)
   cr,   ̭gl,   ̭pher ‒ ⏑ ‒, × ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒, × ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ ||| (=cr, tel, reiz)
  (im Latein vierzeilig: 3 sapph. Elfsilbler und der Adoneus     )

 

Die alkäische Strophe beinhaltet neben äusseren Erweiterungen auch eine innere Erweiterung in der dritten Zeile:

   ia,   ̭gl × ‒ ⏑ ‒, × ⁞ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ || (=ia, tel)
   ia,   ̭gl × ‒ ⏑ ‒, × ⁞ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ || (=ia, tel)
   2ia,   ̭hippd × ‒ ⏑ ‒, × ‒ ⏑ ‒, × ⁞ ‒ ⏑ ⏑ '‒ ⏑ ⏑' ‒ ⏑ ‒ ‒ ||| (=2ia, hagd)
  (im Latein vierzeilig: 2 alk. Elfsibler, 1 alk. Neunsilbler, 1 alk. Zehnsilbler)

 

Ein sehr bekanntes Gedicht aus der lateinischen Literatur in alkäischen Strophen ist Horaz, carmen 1,9 mit der ersten Zeile Vides ut alta stet nive candidum … Um sich die sapphischen und alkäischen Strophen merken zu können, lohnt es sich vielleicht, je eine Strophe auswendig zu lernen.

 

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