3.1.3 Prosodische Besonderheiten im homerischen Hexameter
Bereits in der Antike hat man sich gewisse prosodische Besonderheiten im homerischen Hexameter nicht recht erklären können. Versuchen Sie herauszufinden, wo in den folgenden Versen die Probleme liegen:
(1) Τρῶες δ' ἐρρίγησαν ὅπως ἴδον αἰόλον ὄφιν (Il. 12,208)
Lösung
Der Vers endet mit dem Rhythmus ‒ ⏑ ⏑ ⏑ × statt mit ‒ ⏑ ⏑ ‒ × . Der Anfangsvokal in ὄφιν ist offensichtlich naturkurz (Akut statt Zirkumflex) und wird auch nicht durch den folgenden einfachen Konsonanten Phi gelängt. Die antiken Metriker nannten Verse, welche im letzten Metrum anstelle der festen Länge eine Kürze haben, στίχοι μύουροι ("mausschwänzige Verse"). Spätestens ab dem 1. Jh. n. Chr. wurden solche Verse auch nachgebildet (dazu West 1982, 173f.). Zu bereits antiken Erklärungsversuchen vgl. West 1982, 173 mit Anm. 35 und Nünlist 2000, 114 Anm. 15. |
(2) Αἶαν Ἰδομενεῦ τε κακοῖς, ἐπεὶ οὐδὲ ἔοικε. (Il. 23,493)
Lösung
Der Anfang ist unmetrisch. Das -αν in Αἶαν muss aufgrund des Akzents kurz sein (sonst wäre es †Αἴαν). Die Silben δο und με in Ἰδομενεῦ können nur kurz sein. Auch wenn man nicht weiss, dass das Ἰδ- in Ἰδομενεῦ von Natur aus lang ist, bzw. dies nicht in einem Wörterbuch nachprüft, merkt man, dass die Abfolge von Längen und Kürzen nicht in den Hexameter passt. Die antiken Metriker haben Verse, bei denen im Versinnern anstelle einer Länge eine nicht erklärbare Kürze erscheint, στίχοι λαγαροί ("dünne/schwächliche Verse") genannt. Findet man hier eine Spur des ursprünglichen Vokativs *Aiant (noch ohne Schwund des auslautenden Dentals)? Prosodisches: ἐπεὶ mit Hiatkürzung; οὐδὲ ἔοικε mit Scheinhiat wegen eines ausgefallenen Digammas. |
(3) φίλε κασίγνητε κόμισαί τέ με δός τέ μοι ἵππους (Il. 5,359)
Lösung
Wenn die Silbe φί- in φίλε lang wäre, müsste man eigentlich †φῖλε drucken. Auch der Vergleich mit anderen poetischen Stellen, in denen das Adjektiv vorkommt, zeigt, dass die erste Silbe von φίλος von Natur aus kurz ist. Wenn am Anfang eines Hexameters eine prosodisch unerwartete Kürze stand, sprachen die antiken Metriker von στίχοι ἀκέφαλοι ("Verse ohne Kopf"). Das Besondere an diesem Vers ist weiterhin, dass auch in der Silbe τε von κασίγνητε eine Länge erwartet würde (die dritte feste Länge), er also auch zu den στίχοι λαγαροί zu zählen ist. Alternativer Erklärungsansatz für die Länge der Silbe τε bei Nünlist 2000, 112 : Die Kürze werde durch die Pause bei der Penthemimeres gelängt. |
Auch der folgende Hexameter ist schwierig zu skandieren: Haben Sie eine Idee?
(4) Μηριόνης τ' ἀτάλαντος Ἐνυαλίῳ ἀνδρειφόντῃ (Il. 2,651)
Lösung
Das formelhafte Ende Ἐνυαλίῳ ἀνδρειφόντῃ ist erklärungsbedürftig. Aufgrund des Versschemas
wird ⏑, 4 ‒ ⏔ , 5 ‒ ⏔, 6 ‒ × erwartet. Ein Blick in ein Wörterbuch zeigt, dass das υ in Ἐνυαλίῳ naturlang ist (also Ἐνυ̅αλίῳ). Zur richtigen Erklärung führt die historische Linguistik: Die epische Formel ist so alt, dass sie auf eine Zeit zurückgeht, in welcher das silbische ρ (r̥) noch intakt war. Das Epitheton geht zurück auf *anr̥ku̯hónta̅i mit der metrischen Struktur ⏑ ⏑ ‒ ‒. Die vokalisierte Form *anro– wurde durch ein epenthetisches -d- lautgesetzlich zu ἀνδρο- und damit lang im Anlaut. Mit der Änderung zu ἀνδρει- wurde im Verlauf der Überlieferung versucht, das Metrum wiederherzustellen, da †ἀνδροφόντῃ mit der Struktur ‒ ⏑ ‒ in einem daktylischen Vers unmöglich gewesen wäre (vgl. zu dieser Erklärung Nünlist 2000, 114). Ergebnis: Die Länge des 5. Metrums war ursprünglich durch die Endsilbe von Ἐνυ̅αλίῳ realisiert, in *anr̥ku̯hónta̅i folgten die Doppelkürze und das 6. Metrum (mit echtem Hiat zwischen Substantiv und Epitheton). |
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