4.5 Ioniker
Es wird empfohlen, vor der Lektüre dieses Kapitels zu den Ionikern die Seiten 116-122 in Korzeniewskis "Griechische Metrik" von 1968 zu lesen. Im Vergleich zu Kannicht (vgl. Kapitel 3.1) oder Snell (vgl. Kapitel 3.4) werden Sie sicherlich bemerken, dass Korzeniewskis Ausführungen viel detailreicher sind. Es kann durchaus vorkommen, dass Sie die metrische Struktur einer Strophe in einer Sophokles-Tragödie untersuchen möchten und in diesem Nachschlagewerk eine Analyse davon finden. Auf der anderen Seite ist das Buch selbst für fortgeschrittene Gräzistinnen und Gräzisten nicht immer leicht verständlich. Die Indizes am Ende des Buches (zu Stellen; Namen und Sachen; moderne Autoren) erleichtern es immerhin, schnell Informationen zu bestimmten Themen zu finden.
Im Unterschied zu den bisher behandelten, κατὰ μέτρον gebauten Singversen kommen Ioniker und Chorjamben nur in Singversen vor. Die Ioniker (⏑ ⏑ ‒ ‒) haben ihren Namen von der Verwendung durch die ionischen Dichter. Sie wurden vielfach mit Laszivität, Weichlichkeit und Effeminiertheit assoziiert. Neben der archaischen Lyrik (Alkman; Alkaios; Sappho; oft bei Anakreon), wo sie auch mit anderen Metren verbunden werden, finden sie sich insbesondere im attischen Drama.
Eine Spezialform ist der (nach Anakreon) auch "Anakreonteus" genannte anaklastische ionische Dimeter. Bei diesem Versmass scheinen die Kürze und die Länge in der Mitte "umgebeugt" (zu ἀνακλάω "umbeugen") zu sein:
Statt ⏑ ⏑ ‒ '‒ ⏑' ⏑ ‒ ‒ (reine Ioniker) ist das Versschema ⏑ ⏑ ‒ '⏑ ‒' ⏑ ‒ ‒ (anaklastisch).
(1) Zeichnen Sie in der folgenden Antistrophe aus Aischylos, Hiketiden 1028-1034 die Längen und Kürzen ein. Der Text stammt aus Dale 1983. Zwei Verse enthalten Unregelmässigkeiten. Können Sie diese erklären?
ποταμοὺς δ’ οἳ διὰ χώρας
θελεμὸν πῶμα χέουσιν
πολύτεκνοι, λιπαροῖς χεύμασι γαίας
τόδε μειλίσσοντες οὖδας.
ἐπίδοι δ’ Ἄρτεμις ἁγνὰ (1030)
στόλον οἰκτιζομένα, μηδ’ ὑπ’ ἀνάγκας
γάμος ἔλθοι Κυθερείας·
Στύγιον πέλοι τόδ’ ἆθλον.
Die regelmässigen ionischen Dimeter werden zwei Mal durchbrochen, zunächst durch eine Art Anakreonteus (hier "modifizierter Anakreonteus" genannt) und dann durch einen "richtigen" (nicht modifizierter) Anakreonteus. Diese veränderten Ioniker schliessen als Klauseln die beiden Perioden der Strophe ab. |
Hinweis zur Sekundärliteratur: Bislang wurden für metrische Analysen insbesondere Kommentaren zu den Texten empfohlen. Eine weitere Möglichkeit sind metrische Spezialuntersuchungen. Dale hat drei Bände mit "Metrical Analyses of Tragic Choruses" publiziert. Die metrische Analyse dieser Passage, auf der die oben vorgelegte Lösung basiert, findet sich auf Seite 310 von Faszikel 3 "Dochmiac-Iambic-Dactylic-Ionic".
(2) Skandieren Sie als zweite Übung zu den Ionikern die folgenden Verse. Von welchem Dichter könnten sie stammen?
Δότε μοι λύρην Ὁμήρου
φονίης ἄνευθε χορδῆς·
φέρε μοι κύπελλα θεσμῶν,
φέρε μοι νόμους κεράσσας,
μεθύων ὅπως χορεύσω, (5)
ὑπὸ σώφρονος δὲ λύσσης
μετὰ βαρβίτων ἀείδων
τὸ παροίνιον βοήσω·
δότε μοι λύρην Ὁμήρου
φονίης ἄνευθε χορδῆς. (10)
Die anaklastischen ionischen Dimeter heissen auch Anakreonteen (⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒), und man könnte deshalb den Namensgeber als Autor des Gedichts vermuten – es sei denn, man weiss, wie wenig von ihm selbst erhalten ist. Mit Anakreon liegt man aber gar nicht so falsch: Es handelt sich um das zweite Gedicht der so genannten Carmina Anacreontea, einer Sammlung von Gedichten, die sich in Anakreons Tradition der Symposionsdichtung einschreiben und von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeiten (Hellenismus bis 5./6. Jh. n. Chr.) verfasst wurden. |
Hinweis zur Sekundärliteratur: In der massgeblichen kritischen Ausgabe der Carmina Anacreontea von West 21993 wird die Metrik in der Praefatio besprochen (auf Seite xiv ab "Anacreontei forma purissima est"). Auch Vorwörter einer Edition können demnach wichtige Informationen für eine metrische Analyse enthalten. Ebenfalls finden sich entsprechende Angaben vielfach in einem Nachwort. Zur Metrik der Carmina Anacreontea vgl. daher auch Bär/Baumbach/Dümmler/Sitta/Zogg 2014, 163-165 bzw. 2020, 157–159, die von mir mitherausgegebene Reclam-Ausgabe der Gedichte.
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