4.8 Dochmien
Die Dochmien sind eine Besonderheit der Tragödie. Ob sie bereits in der Lyrik anzusetzen sind, bleibt unter den Spezialistinnen und Spezialisten der griechischen Metrik umstritten. In der Komödie sind sie jeweils ein Hinweis auf einen intertextuellen Dialog mit der Schwestergattung. Snell und Korzeniewski behandeln dieses Versmass nicht unter den κατὰ μέτρον gebauten Singversen. Da Dochmien aber wie Metren verwendet werden, sollen sie an dieser Stelle diskutiert werden (dazu Kannicht 1997, 358). In der Einführung zu den κατὰ μέτρον gebauten Singversen wurde die Bauform des Dochmius mit ⏒ ‒ ‒ ⏑ ‒ angegeben. Dabei handelt es sich aber nur um die Grundform dieses sehr variablen Metrums. Da alle Längen auch durch zwei Kürzen aufgelöst werden können, und ausserdem anstelle beider Kürzen eine Länge eintreten kann, sieht das genauere Schema folgendermassen aus:
⏒ ⏕ ⏕ ⏒ ⏕.
Auch die Dochmien werden in Wests "Greek Metre" von 1982, einem der wichtigsten Standardwerke zur griechischen Verslehre, sehr ausführlich diskutiert. Es wird empfohlen, die entsprechenden Erläuterungen dazu auf Seite 109 zu lesen.
Von den 32 theoretisch möglichen Ausprägungen der Dochmien sind etwa ein Drittel nicht belegt. Gemäss West können ungefähr 75 % aller Verse in diesem Metrum mit folgendem Schema beschreiben werden: ⏒ ⏕ ‒ ⏑ ‒. Als Abkürzung findet man neben "do" oft auch δ. Dochmien stehen vielfach neben jambischen Metren, kommen aber auch neben Anapästen und daktylischen Elementen vor. Ihren Namen haben sie von δόχμιος "schief, schräg". Das ungerade Zeitverhältnis von 3 χρόνοι und 5 χρόνοι in ⏑ ‒ | ‒ ⏑ ‒ hat ihnen diesen Namen eingebracht (eine Länge=2 χρόνοι, also "Zeiteinheiten"). Es war als einziges Versmass der griechischen Antike eindeutig emotional belegt und wurde für den Ausdruck leidenschaftlicher Erregung, Angst und Verzweiflung verwendet.
Als Sonderformen des Dochmius, West nennt diese "abnormal dochmiacs", seien die anaklastische Variante des Hypodochmius ('‒ ⏑' ‒ ⏑ ‒ ) und der Kaibelianus (× ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ) erwähnt. Diese beiden Metren werden im Rahmen dieser Einführung in die griechische Metrik nicht weiter behandelt.
Skandieren Sie als Übung das Chorlied in Euripides, Medea 1251-1260. Text und Kolometrie stammen aus der Ausgabe (mit Kommentar) von Mastronarde 2002.
Denken Sie daran, dass reine Dochmien-Strophen selten sind ...
Hinweis zum Text: Die cruces desperationis in Vers 1260 hat der Herausgeber nicht aus metrischen, sondern aus inhaltlichen Gründen gesetzt.
ἰὼ Γᾶ τε καὶ παμφαὴς
ἀκτὶς Ἁλίου, κατίδετ’ ἴδετε τὰν
ὀλομέναν γυναῖκα, πρὶν φοινίαν
τέκνοις προσβαλεῖν χέρ’ αὐτοκτόνον·
σᾶς γὰρ χρυσέας ἀπὸ γονᾶς (1255)
ἔβλαστεν, θεοῦ δ’ αἷμα <χαμαὶ> πίτνειν
φόβος ὑπ’ ἀνέρων.
ἀλλά νιν, ὦ φάος διογενές, κάτειρ-
γε κατάπαυσον ἔξελ’ οἴκων τάλαι-
ναν φονίαν τ’ Ἐρινὺν †ὑπ’ ἀλαστόρων†. (1260)
Hinweis zur Sekundärliteratur: Neben den metrischen Handbüchern, den Kommentaren/Editionen der Texte und den metrischen Einzeluntersuchungen sind oft Spezialuntersuchungen, welche als Aufsätze oder Monographien publiziert wurden, von zentraler Bedeutung für die metrische Analyse eines Texts. Ein Beispiel für eine solche Untersuchung zu den Dochmien im Drama ist Conomis’ „The Dochmiacs of Greek Drama“ von 1964. Dieser Artikel soll lediglich als illustratives Beispiel dienen und geht im Rahmen dieser Einführungen viel zu sehr ins Detail. Das gleiche gilt für die italienische Monographie von Andreatta 2014 mit dem Titel „Il verso docmiaco: Fonti e interpretazioni“.
Literatur zu den κατὰ μέτρον gebauten Singversen: Korzeniewski 1968, 73-122 (und 170f. zu den Dochmien); Snell 41982, 24-37 (und 63f. zu den Dochmien); Kannicht 1997, 353-359; Utzinger 2007, 54-67; Bär 2009, 8f. West 1982 und Sicking 1993 sind anders aufgebaut und haben keine genau entsprechenden Kapitel. Ihre Ausführungen zu den einzelnen Metren lassen sich aber leicht über die Indizes finden.
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